
Ganz alleine ging ich mit meinem Vormund vom Caritasverband zum Bahnhof und startete zu einem neuen Lebensabschnitt.
Im Zug schwirrten mir tausend Bilder von dem Leben bei meinen Großeltern durch den Kopf.
Warum konnte ich mich nicht freuen, wenn ich daran dachte, bald weit weg von meinem Großvater zu sein?
Warum konnte der Gang ins Heim diesen Ekel nicht irgendwie mit Jubel überdecken?
Ich begriff das nicht!
Felder, Häuser und Bäume sausten an meinem Fenster vorbei, und das monotone Zuggeratter ließ meine Gedanken weiter spazieren gehen.
Was kamen da nicht alles für Momente hoch, von denen ich jedoch viele mit den Feldern und Häusern vorbei fliegen ließ.
Und doch blieben einige hartnäckig im Fokus meiner Gedanken.
So sah ich mich in einer Szene mit meiner Großmutter in der Küche beim Spülen.
Mein Großvater tobte mal wieder lautstark wegen irgendetwas was in verärgerte hatte, im Wohnzimmer.
Als er sich immer mehr hochschaukelte, fing meine Großmutter an mit Löffeln auf die Töpfe zu schlagen, was ich ihr natürlich mit Begeisterung gleichtat.
Welch ein ohrenbetäubendes Spektakel, aber es verfehlte nicht seine Wirkung.
Wutschnaubend nahm mein Großvater seinen Hut und marschierte zur Tür hinaus. Bestimmt ging er in sein Wettbüro, denn seine große Leidenschaft waren Pferderennen Wetten.
Eine andere Szene drängte sich mir auf.
Mein Großvater hatte die Gabe, sich gekonnt in Szene zu setzen.
So schien es ihm sichtlich Vergnügen zu bereiten, einen Asthmaanfall vorzutäuschen, der ihn jedoch immer nur dann überfiel, wenn genügend Sitzmöglichkeiten in der Nähe waren.
Er bekam ihn nicht im Flur, Küche oder Toilette – nein, immer passend im Wohnzimmer, wo er sich theatralisch in seinen Sessel plumpsen lassen konnte.
Wenn dann meine Großmutter hinunter zum Telefonhäuschen lief, um einen Notarzt zu rufen, dieser dann auch kam um meinen Großvater in ein Krankenhaus einzuweisen, weigerte er sich strikt mit der Begründung, es ginge ihm schon viel besser.
War der Notarzt dann wieder gegangen, spielte mein Großvater einen erneuten Schwächeanfall vor und ließ sich von meiner Großmutter, dieser kleinen Person, über ihren Rücken hängend, ins Schlafzimmer schleifen.
Es sind genau diese Bilder, in denen meine Großmutter tagtäglich der Willkür und Aggression meines Großvaters völlig hilflos ausgesetzt war und ich nichts dagegen unternehmen konnte.
Ich bewunderte sie für ihre Zähigkeit und die Art ihn zu ertragen.
Wenn ich sie als Kind manchmal fragte, warum sie nicht einfach von ihm wegginge, gab sie mir zur Antwort: „Ich habe vor Gott geschworen – bis das der Tod uns scheidet! Diesen Schwur darf ich nicht brechen!“
Was ist das für eine Religion, was für ein Gott, der solche Opfer forderte? Der seine Schafe dem Wolf überlässt, ohne einzuschreiten?
Es überstieg schlichtweg meine kindliche Vorstellungskraft.
Deshalb hatte schon in diesem Stadium meiner Entwicklung Gott für mich nichts Liebenswertes.
Er war mehr behaftet mit Zorn, Strafe und Gewalt, als mit Liebe und Güte.
Auch das merkwürdige Erlebnis in der Schule schoss mir durch den Kopf.
Ich saß in der Klasse, und auf einmal fing ich an fürchterlich unruhig zu werden. Mein verlängerter Rücken fing unangenehm an zu kribbeln und ich wusste auf einmal mit absoluter Gewissheit, dass Zuhause irgendetwas passiert war.
Als ich dann nach Hause ankam, sah ich die Bescherung. Mein Großvater hatte im Zorn die gesamten Blumen von der Fensterbank gefegt.
Meine Großmutter saß stumm im Sessel und starrte nur auf die zerbrochenen Scherben der Töpfe und die vielen abgeknickten Blüten, Blätter und Ästchen, die sie mit so viel Sorgfalt gehegt und gepflegt hatte.
So viel Verzweiflung, Resignation und Schmerz lag in diesem Bild, das ich auch diese Situation bis heute nicht vergessen kann.
Diese Vorahnungen von unangenehmen Situationen, die sich durch das kribbeln im Rücken ankündigen, sind mir bis heute geblieben.
Nur heute weisen sie nicht mehr unbedingt nur auf schlechte Ereignisse hin, sondern auch auf Freudige.
Gott sei Dank etwas, das nicht nur negativ behaftet geblieben ist.
Fortsetzung folgt
Copyright seelenkarussell
auch hier keinen Like von mir ! Traurig aber wahr
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Was will man da auch liken. Kann ich gut nachvollziehen 😊🌈💞
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ich finde einen Like „gefällt mir“ eben sehr unpassend zu dem Thema !
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Ich kann das sehr gut nachempfinden. Ginge mir genau so.😊🌈💞
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Jeder muss für sich selbst entscheiden und ich wählte diese Variante die ich für angebracht hielt! In deinem Fall eben den Like nicht zu drücken!!!
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Nicht immer geht es ums liken, sondern ums fühlen.
Somit hast du alles richtig gemacht❣
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Die gut dargestellte Tragik einer Ehehölle, wie sie vom Himmel nie geschmiedet sein kann. Ja früher haben die Ehen länger gehalten, aber zu welchem Preis? Und das Problem ist, dass sich der Preis vererbt auf die traumatisierten Kinder, womit ein Kreislauf der Hölle sich immer wieder neu gebiert.
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Ja, die Ehe meiner Großeltern war furchtbar. Und du sagst es ganz richtig: Zu welchem Preis???😪
😊🌈💞
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Eine wirklich traurige Geschichte, trotzdem ein like, weil Du sie so gut3geschrieben hast.Danke!
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Danke Hedwig 😊🌈💞
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❤ ❤ ❤
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