Mein Vormund wäre fast durch mein plötzliches Losreißen zu Boden gestürzt, was ich ihr aus tiefster Seele gewünscht hätte. Aber sie stand im ersten Moment nur etwas verdattert da, ehe sie die Situation begriff und mir hinterher lief, mit dem schrillen Befehl: „Gabriele komm’ sofort zurück!“

Als ich zitternd und außer Atem an unserer Haustür ankam, stand meine Großmutter schon da, schloss mich in die Arme und strich mir beruhigend über das Haar.

Ich weiß nicht mehr was sie für Kosenamen sagte, um mich zu besänftigen. Ich sog nur den vertrauten Geruch ihrer Kleider in mich auf und spürte die alten Hände, die sanft und liebevoll über mein Haar und meinen Rücken streichelten.

Mein krampfhaftes Schluchzen ließ langsam nach, doch presste ich mich mit aller Gewalt an den Körper, der doch das Einzige war, was zu mir gehörte.

Vergessen waren all’ die Schläge, die diese Hände ausgeteilt hatten. Vergessen war, wie oft ich diese Frau in meinem kindlichen Zorn verflucht hatte, wenn ihre Strenge meine kleine aufkeimende Persönlichkeit wieder zu Boden zwang.

Alles, alles war vergessen, wenn ich nur bleiben konnte und nicht in dieses verfluchte Heim musste, mit dem man mich über Jahre hin eingeschüchtert und unter Druck gesetzt hatte.

Die Augen meiner Großmutter waren erfüllt von Traurigkeit und der stummen Bitte an meinem Vormund, alles wieder rückgängig zu machen. Wobei in den Augen meines Vormunds das Unabänderli­che kalt und ohne Gefühlsregung zu lesen stand.

Nein, mein kommendes Schicksal war wirklich nicht mehr abzuwenden. Mein Ge­fühlsausbruch war nur ein Aufschub von Minuten.
Der Weg war eingeschlagen, abge­sprochen und musste begangen werden, im Interesse aller Beteiligten, und letztlich auch zu meinem „Besten“.

Nach einem kurzen Augenblick nahm mich meine Großmutter an den Schultern und schob mich einen Schritt vor sich. Dann sprach sie ruhig, vernünftig und ernst: „Gabi, ich möchte das du jetzt wie ein großes 12jähriges Mädchen mit gehst, – ohne zu weinen und zurückzulaufen.“

Als sie die aufkommende Panik in meinem Blick bemerkte, nahm sie mich wieder in den Arm, und ihre Stimme wurde leise und liebevoll: „Du brauchst keine Angst zu haben meine Kleine. Schau, dort sind so viele Mädchen in deinem Alter, mit denen du mehr anfangen kannst als mit uns. Wir sind nun mal zu alt, dein Opa und ich. Aber wir kommen dich so oft es geht besuchen. Und außerdem, in einem Jahr bist du ja vielleicht wieder bei uns.“

„Also“, damit hob sie mein Gesicht mit ihrer Hand hoch, so dass ich sie ansehen musste: „bitte sei ein großes Mädchen und gehe jetzt. Ich werde immer bei dir sein wenn du mich brauchen wirst. Ich verspreche es! – Und nun geh!“

Als ich mich unfähig jeder Worte umdrehen wollte, zog sie mich noch einmal an sich, hauchte mir einen Kuss ins Haar und flüsterte kaum hörbar: „Ich hab’ dich arg lieb meine kleine Hexe, vergiss das nie!“ Damit stieß sie mich fast grob von sich und ging ins Haus zurück, ohne sich noch einmal umzusehen.

Mir blieb nichts übrig, als das Gleiche zu tun, nur in die entgegengesetzte Richtung.

Doch auch ich blickte nicht mehr zurück, denn der Zug wartete ja.

Wann hatte ich jemals meine Großmutter mit solch einer tiefen Zärtlichkeit und Wärme erlebt?
Nie!
Warum gerade jetzt?

Fortsetzung folgt

Copyright seelenkarussell