Ilbenstadt

Am frühen Morgen wurde ich von meiner damaligen Fürsorgerin abgeholt.
Eine herbe ältere Dame, die mich mit ihrem kalten Auftreten ziemlich einschüchterte.
Als ich mit ihr den kleinen Weg der Siedlung tief traurig entlang ging, drehte ich mich nochmal um und schaute zu unserem Küchenfenster hoch.
Ich sah meine Großmutter dort stehen, wie sie sich mit der Hand Tränen vom Gesicht wischte.
In dem Moment war alle Prügel, alle eingenässten Schlüpfer die sie mir in den Mund rieb, alle Zornausbrüche und Übergriffe meines Großvaters vergessen und vergeben!
Ich wollte nur wieder zurück in die Umgebung die mir vertraut war, und deren Muster ich kannte.
Aber meine Fürsorgerin zog mich unaufhaltsam von meinem Zuhause weg, und erzählte mir im säuselnden Ton, wie schön ich es bald haben werde.
Ihre Erzählungen passten so gar nicht zu den Erzählungen meiner Großmutter, und ich war verwirrter als je zuvor.
Endlich kamen wir in Bad Nauheim an!
Als wir vor dem Haus standen das nun mein neues Zuhause werden sollte, erklärte mir meine Fürsorgerin, dass dieses Haus nur eine Übergangsstation sei, weil das Heim in Ilbenstadt gebrannt habe, und erst wieder aufgebaut werden müsste.
Mein Herz pochte bis zum Hals als wir vor der großen Eingangstür standen und klingelten.
Eine ältere Frau schloss uns auf und bat uns herein.
Nachdem wir in der großen Eingangshalle standen, sah ich, wie die Frau die Tür wieder 2x abschloss.
Bei meiner Großmutter wurde die Wohnungstür nur abends abgeschlossen.
Und ich begriff: Ich werde hier eingeschlossen!
Eine unsagbare Panik machte sich in mir breit.
Verloren stand ich bei den beiden Frauen, die sich angeregt unterhielten.
Alles war still!
Kein Geräusch zu hören, nur das leise Reden der beiden Frauen.
Wo war das Kinderlachen?
Wo waren die anderen Mädchen?
Diese Stille legte sich wie eine dunkle schwarze Wolke auf mich nieder.
Ich wollte nach Hause!
Und meine Tränen waren nicht mehr zu unterdrücken.
Als die Leiterin bemerkte das ich weinte und am ganzen Körper zitterte, verabschiedete sie meine Fürsorgerin und brachte sie zur Tür.
Und wieder wurde die Tür hinter ihr  2x abgeschlossen.
Ich bin eine Gefangene! Eine Weggesperrte!
Und dieser Gedanke öffnete die Tränenschleuse so weit, dass ich anfing hysterisch zu schluchzen.
„Na, nu reiß dich mal zusammen!“ sagte die Leiterin und setzte sich mit mir auf die Treppe, die zu den einzelnen Gruppen führte.
„Du brauchst doch keine Angst zu haben! Wir fressen dich nicht! Wenn du dich schön brav an die Regeln hältst, hast du schon die Hälfte richtig gemacht.“ und tätschelte beruhigend meine Hand, die vor Schreck wegzuckte.
Sie zeigte mir die Eingangshalle in der sich ihr Büro befand, dass Zimmer des Pfarrers und die kleine Kapelle.
In der großen langen Truhe an der Wand befand sich der rote Teppich, der nur zu besonderen Feierlichkeiten in der Kapelle ausgelegt wurde.
Gegenüber der Kapelle ging es in einen großen Saal, in dem ein schwarzes Klavier stand.
Sie erklärte mir, dass sich hier das gesamte Haus am Wochenende zum Singen und allerlei Proben traf.
Als wir wieder in die Eingangshalle zurückkehrten, stand dort eine grauhaarige Frau mit Brille und vorstehenden Zähnen.
ich mochte sie auf den ersten Blick nicht!
„Das Gabi ist deine neue Gruppenmutter Frau Schneider! Sie wird dir oben alles zeigen und erklären.“
Damit war die“Übergabe“ abgeschlossen.
Ich folgte dieser Gruppenmutter widerwillig in den zweiten Stock und trat ein in ein völlig neues, anderes, bis heute verhasstes Leben.

-Fortsetzung folgt-

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