gedenken

Man merkte schon seit Tagen, dass es Irmchen nicht gut ging.
Sie hatte einen trockenen Husten und alles was sie tat, ging ihr langsam und schwer von der Hand.
Trotzdem stand sie wie all die Jahre zuvor an der Ecke des Spielzeugladens, und hielt zittrig ihre Obdachlosenzeitung in die Höhe.
Die meisten Leute nahmen sie zwar wahr, gingen aber achtlos an ihr vorbei.
Nur eine Handvoll Menschen blieben bei ihr stehen, kauften eine Zeitung, oder wechselten ein paar Worte mit ihr.
Dabei kannten sie die meisten Leute.
Viele waren mit ihr zur Schule gegangen, und hatten in jungen Jahren so manche Fete mit ihr geschmissen.
Erst als ihr Mann durch einen Unfall verstarb, verlor sie jeden Halt.
Sie fing an zu trinken, und vernachlässigte alle sozialen Kontakte.
Sie stürzte einfach ins bodenlose, und lebte seit dem auf der Straße.
Irgendwann fand man sie mehr tot als lebendig auf der Straße liegen, und brachte sie in ein Krankenhaus.
Dort lernte sie den jungen Pfleger Jens kennen, der sich rührend um sie kümmerte.
Er war der Erste, dem sie ihre Geschichte erzählte, und ihren Tränen freien Lauf ließ.
Und danach wurde alles anders!
Er ging mit ihr zu allen Ämtern, suchte mit ihr eine winzige Wohnung, überredete sie dazu den anonymen Alkoholiker beizutreten, und ermöglichte ihr so einen Neuanfang.
Ganz langsam klammerte sie sich wieder ans Leben, und sah sich verpflichtet, die Menschen auf die Miseren der Obdachlosen aufmerksam zu machen.
Seitdem stand sie täglich für drei Stunden an der Ecke des Spielzeugladens und zeigte stumm die Obdachlosenzeitung.
Diejenigen, die achtlos an ihr vorbeigingen, obwohl sie sie kannten, bedachte sie nur mit einem mitleidigen Lächeln.
Es waren für sie einfach nur Unwissende!
Am Freitag den 13. gingen die Leute am Spielzeugladen vorbei, und blickten erstaunt zu dem Platz, an dem sie immer stand.
Doch der Platz war leer!
Auch in den nächsten Tagen war Irmchen nicht zu sehen.
Langsam fing man an zu reden, und die Frage, ob ihr was passiert sei, wurde immer lauter.
Am Montag lag ein Schild auf ihrem Platz mit dem Hinweis, dass sie am Freitag verstorben sei, und ein kleines Windlicht flackerte verloren im Wind.
Daneben lag eine weiße Rose mit einem Zettel auf dem stand: Danke, dass es Dich gab!
Betreten und stumm standen die Menschen da und sahen, wie eine ältere Frau einen Strauß Blumen daneben legte.
Am Abend lagen dort an die 20 Blumensträuße, und immer noch standen die Menschen in stiller Anteilnahme davor.

Deshalb: Achtet die Lebenden, denn auch Ihr seid endlich!

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