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Ihr Weg führte sie beim Spazierengehen an eine Lichtung, auf der ein großer stattlicher Baum stand.
Selten sieht man so einen schönen gut gewachsenen Baum.
Seine Äste breiteten sich gleichmäßig zu allen Seiten aus, und sein Laub war sattgrün und schattenspendend.
Sein Stamm zeugte von bestimmt hundertjähriger Standfestigkeit.
Dieser Baum lud einfach zum Verweilen ein!
Und doch, irgendetwas war eigenartig, ja fast düster.
Beim näheren Hinsehen stellte sie fest, die Bank, die zum Verweilen einladen sollte war erheblich verwittert und vergammelt.  Teile der Rückenlehne waren heraus gebrochen, und lagen teils auf der Bank, teils achtlos daneben.
Wer macht denn so was? dachte sie entrüstet und näherte sich mit einem mulmigen Gefühl.
Erschrocken sah sie, dass auch die gesamte Baumrinde massiv beschädigt war.
Als hätte man mit einer Axt mutwillig kreuz und quer hineingeschlagen, dachte sie entrüstet.
So wird es auch gewesen sein, denn unter den ganzen Axteinschlägen konnte man viele in den Baum geschnitzte Herzen mit den dazugehörigen Initialen erkennen.
Was einst mit Liebe und Inbrunst in den Baum geschnitzt wurde, sah jetzt bizarr und feindlich aus.
Dieser alte Baum, der Liebenden und müden Wanderern Schatten und Zuflucht bot, wirkte jetzt abweisend und seelenlos.
Sie ging eilig zurück, rief ihre Freundin an und erzählte ihr von dem einst so schönen Ruheplatz.
Von ihr erfuhr sie, dass vor 10 Jahren ein Mann seine verschmähte Liebe umbrachte, und dem Baum und der Bank voll Wut und Zorn diese Schäden zufügte.
Seitdem wird dieser Platz gemieden, und im Dorf flüstert man unter vorgehaltener Hand, dieser Ort sei verflucht.
„Was ist denn das für ein Schwachsinn!! Also ich fahre jetzt in den Baumarkt, hole Bretter und Nägel, und repariere wenigstens die Bank notdürftig.“ sagte sie spontan und zog sich kopfschüttelnd ihre Jacke wieder an.
Als sie Stunden später völlig verschwitzt ihr Werk begutachtete, lächelte sie und war durchweg zufrieden!
Sie ging um den Baum herum, streichelte tröstend seine tiefen Einkerbungen und setzte sich selig auf ihre reparierte Bank, und genoss die Aussicht.
Urplötzlich fuhr der Wind durch das Geäst, und ein sanftes Rauschen und Wispern umgab sie.
Gerade so, als wolle der Baum ihr Danke sagen.

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